Müde lag der Schatten des Berges auf seinem Gesicht. Grau wurde sein Herz und kalt seine Finger, die sich schlossen um die kleine Hand des Kindes neben ihm. Ein Mädchen, kaum drei Hände lang. Aschbraunes Haar, ihren Kopf wie Schatten umfließend, schmiegte sich eng an ihren schlanken Hals. Augen aus Sehnsucht. Ein Mund aus Licht. Das Mädchen küsste seine Finger und flüsterte mit heißen Lippen. Ja, sagte er, ich weiß. Auch ich habe es gesehen, doch wir wissen, es muß sein. Jetzt. Behutsam hob er sie hoch. Leicht, so leicht war sie, und setzte sie auf seine Schultern. Halt dich fest. Dann begannen sie dem Aufstieg. Der Mann und das Kind. Der Weg war beschwerlich, jeder Meter schmerzte, ermüdete Muskeln und Sehnen und das hart pochende Herz. Atmen war Mühe und Qual. Jahreszeiten kamen und gingen. Ein Sommer. Nur ein Lidschlag. Ein Winter. Unendlichkeit. Unerbittlich raunte der Wind, brachte Kälte und Nebel, Schärfe und Strenge. Trug fort Tränen und Schweiß, Wispern, Hauchen und Stärke. Aus dem Kind wurde ein Mädchen. Und aus dem Mädchen die Frau. Ich habe dich geträumt. Geträumt von dir. Und nun muß ich dich fortgeben. Niemals blickte er sich um. Bemerkte nicht wie sie wuchs, spürte nicht ihre keimenden Brüste, nicht den süßen Geruch, den sie mit jedem Atemzug über seine Schultern hauchte. Schwerer wirst du, dachte er. Und ich werde müder und müder,  meine Kraft schwindet. Doch ich darf nicht aufhören zu gehen. Immer höher und höher, meine kleine Prinzessin. Sie schlief und wachte und schlief. Und immer war da das Keuchen des Mannes, auf dessen Schultern sie alterte und auf ein Ziel wartete. Ein Ziel, welches sie nicht kannte. Und dem sie doch vertraute, denn sie vertraute dem starken Nacken den ihre Arme fest umschlossen. Und als seine entkräfteten Muskeln zu zittern begannen, er seine schwarz erfrorenen Finger nicht länger spürte, er glaubte, sein Herz könne aufhörten zu schlagen, griff seine Hand den allerletzten Vorsprung. Er zog sich und das Mädchen, die Frau, über diesen letzten Felsen. Blickte aus müden Augen in nebelverhangene Wolkengesichter. Wir sind da, flüsterte er atemlos. Vorsichtig hob er sie von seinen Schultern und legte sie auf den kalten Stein. Wir sind da, Prinzessin, endlich, endlich hat es ein Ende. Er küßte sie sachte, und ihre Lippen waren so kalt wie der Fels auf dem sie lag. Er setzte sich neben sie. Wie schön du bist. Wie schön du bist. Die Schatten der Nebel verdichteten sich zur Nacht. Er schloß die Augen und legte sich neben sie.

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