In dem Winkel, welcher, gebildet aus einem niedrigen Schränkchen ohne Türen, einem achtlos abgestellten, für spätere Verwendung bewahrten, vogelaugenahornlaminierten Holzbrett und dem Kühlschrank, scheint seit einigen Tagen etwas zu wohnen.

Zwischen den Atemaussetzern und den kurzen Pausen meines pochenden Herzens kann ich hören, wie es sich bewegt.

Genauer gesagt ist es vielmehr ein Raunen oder Flüstern, ein feuchtes Rascheln wie von schläfrigen Mäusefüßen verursacht auf durch Regen matschigen Laubes. Es kommt aus dem Staub und klebrigen Resten organischer Substanzen in den Falten der schwarzen Schraubfüße aus Hartplastik.

Einst ohne Blende zwecks einfacher Reinigung montierten Küchenzeile, rächt sich dieses Ensemble durch beständiges Sammeln zu Boden fallender Brotkrümel, Haferflocken, Kaffeepulver, Zucker. Tropfen und Pfützen von Schweiß, Wasser, Orangensaft, Marmelade und Honig, beim Öffnen der Kühlschranktür herausfallender Salami- oder Käsescheiben. Wie oft dachte ich daran, mich zu bücken und aufzuheben, was herunterfiel. Den Handfeger zu nutzen um wenigstens das Gefühl zu haben, ein ordentlicher Mensch zu sein. Einer, dem es gelingt, die Wohnung in einen Zustand dauernder Ordnung zu halten, um nicht bei jedem sich ankündigenden Besuch in Panik zu verfallen um nach Stunden hektischen Putzens und Aufräumens vor Erschöpfung keinem Gespräch folgend könnend den Eindruck geistiger Umnachtung zu erwecken. Doch lernte ich in vielen Jahren gelebten Durcheinanders und Verwahrlosung den natürlichen Verfall aller nicht künstlicher Stoffe zu schätzen. Sie werden unsichtbar wenn ich sie ignoriere.

Fordern sie in den ersten Stunden und Tagen noch Aufmerksamkeit, liegen anklagend herum, heften sich an meine nackten Füße um sich herumtragen zu lassen, kriechen zwischen Zehen und unter Fußnägel, bereiten im Zusammenspiel der Gerüche ein Potpourri verschiedenster olfaktorischer Beleidigungen, scheinen sie doch irgendwann aufzugeben. Müde, sich dem Schicksal ergebendend, vernachlässigten Kindern gleich, reglos schweigend werden sie zuerst transparent, um sich dann schleichend in den Ritzen, Fugen und Falten der Wohnung zu verstecken.

 

Ich rauche, nackt auf dem Sofa sitzend, eine Zigarette. Lasse die Asche auf den Teppich fallen, der Staubsauger schiebt seinen Stecker in die Steckdose. Noch nicht, mein Freund, morgen vielleicht. Es wird Nacht. Wann fing der Tag an zum Abend zu werden? Es sind Stunden vergangen, ich weiß es, weil ich keine Zigaretten habe. Heute Morgen war das Päckchen noch voll.

Es ist dunkel, einzig die Goldfische in ihrem gläsernen Zuhause reflektieren durch das schmutzige Fenster fallendes Mondlicht. Träge treiben sie in der Strömung des Wasserfilters dahin, dünne, graue Fäden aus Kot hinter sich herziehend. Sinkende U-Boote ohne Anker, funkelnde Halbedelsteine. Niemals sah ich sie einander berührend, sich schmiegend an der Haut des anderen reibend. Warum vermeiden sie das? Wer lehrte sie diese Form der Einsamkeit? Und warum schreit in mir diese Sehnsucht nach einer Haut, die nicht die meine ist?

 

An den unscharfen Rändern meiner Wahrnehmung huscht ein Schatten über die graue Wand zwischen den Fenstern. Verfängt sich in schmierigen Spinnweben. Weberknechte taumeln wie fette Kreisel, aufgeregt. Überreste allgegenwärtiger Insekten bilden komplizierte Muster im Winkel zwischen Wand und Decke. Vergeblicher Versuch die Zeichen zu deuten. Der Schatten wirft Schatten in den Schatten. Verharrt. In den stumpfen Kristallen des Lüsters spiegelt sich mein Gesicht. Matt, verzerrt. Vor dem Haus vorbeifahrende Lastwagen versetzen das Haus in unablässige Vibrationen, die Kristalle schwingen, zittern. Plötzlich verstummt das Rauschen in meinen Ohren. Erst jetzt wird mir bewußt, daß es da war. Das Lied meines Blutes, endloser Singsang, mäandernd durch meinen Körper streifend, schleifend, wandernd, schlaflose Nächte voller Geräusche. Ich lausche in die Stille. Alles wird langsamer. Wann sind meine Fingernägel gewachsen? Hatte ich sie nicht erst gestern geschnitten? Vergilbte Halbmonde als Verlängerung und Ende der Finger. In meinem rechten Ohr springen Goldkäfer wie Tischtennisbälle auf meinem Trommelfell. Ich lege mich auf den Teppich, und presse das Ohr tief in die Fäden aus rotem Gras. Die Käfer kriechen hinein, verweben ihre Fühler und Beine mit den Fasern. Ihre Flügel, millionenfach gespiegelt vergolden den Boden. Sterbendes Finale. Ich bleibe reglos liegen. Fahl hängt Rauch in der Luft, teilt den Raum, goldener Schnitt. Ich warte, bis das Rauschen zurückkehrt. Stehe auf und bekämpfe aufkeimenden Schwindel mit der Konzentration eines Goldschmieds beim Löten von Arabesken auf schmalen Eheringen.

 

In dieser Nacht hätte ich dich geheiratet.

 

Zuerst hast du gelacht. Dies sei das schönste Kompliment, das du je hörtest, sagtest du mit einer Stimme, schwer von Wein. Diese Stunden waren Jahre, mein Liebling. Deine Hand in meiner war ein Teil von mir. Meine Hand, deine Hand. Ich fühlte keinen Unterschied. Aber das geht nicht, sagtest du, du kannst mich nicht heiraten. Und da lachtest du nicht mehr.

Wir falteten den Raum. Verkürzten die Entfernung zwischen zwei Welten. Deiner und meiner. Für einen Moment war es die Ewigkeit. Ich sah dich umrankt von weißen Lilien, transparente Schleier, schimmernder Damast liebkoste deinen Leib. Dort, wo dein Herz ist, färbte es sich rot. Ich ertrank in deinen Augen. Sah ein Schiff weit hinten am Horizont. Sah dich winken. Die Strömung war mächtiger als die Flut, die dich an den Strand warf an dem ich wartete. Wartete auf dich. Der Klang deiner Stimme wurde Wind und Möwen. Im Inneren der Muschel, die ich in der Hand hielt, verbarg sich der Ring den ich dir schenken wollte. Für immer dein.

 

Du warst so warm, wärmer als die Luft um mich herum, wärmer als der Sand, wärmer als das Licht der Kerze. Ich wünschte meinen Kopf in deinen Schoss, auf deinen Bauch der mir das Paradies versprach, meine Hände auf deiner Haut, mein Herz nah an deinem Herz. Ein unscharfer Kuss, verhangene Leidenschaft. Nein, ich liebe dich nicht. Ich liebe dich nicht. Liebe mich nicht. Du schmecktest nach Wein und Zigaretten, nach Hunger und nach allen die dich je zuvor geküsst. Der Geruch deiner Lippen, deiner Haare, deiner Haut drang durch jede Pore in mich ein. Mein Haus hatte keine Türen mehr. Ich trank deinen Atem, schluckte die süße Schwere deines Mundes, aß die Frucht die du mir schenktest, in diesem Augenblick.

 

Du kannst bleiben, sagtest du.

Ich wollte niemals gehen.

 

Die Welt wird kleiner. Schrumpfender Planet, implodierendes Universum. Irrlichter tanzen, Mücken gleich, hinter meinen Augäpfeln. Ich zünde mir eine Zigarette an. Stelle mich im Bad vor den Spiegel. Lautlos verschwimmendes Nachbild. Dein Gesicht.

 

Verliebe dich nicht. Verliebe dich nicht in mich.

Weil auch ich mich nicht verliebe. Nicht verliebe in dich.

 

Flüsternde Schatten. Ich habe dich gesehen. Ich habe dich gesehen, weil du mich sehen ließest. Es war keine Mauer, kein Fenster, keine Tür. Keine Schranke, kein Wächter der dich beschützte und verteidigte. Der Drache schlief. Betäubt von Worten, Gesten und scheinbaren Belanglosigkeiten. Es waren die Worte hinter den Worten, Bedeutungen hinter Bedeutungen, Berührungen hinter Berührungen. Zu viel Wein. Ich war betrunken. Betrunken auch von dir. Zu viele Zigaretten. Alles drehte sich. Und blieb doch reglos. In dieser Nacht spürte ich Milliarden Jahre der Evolution. Verlangen, Begierde, Neugier und Furcht. Flüsse über alle Ufer, Berge zerbarsten zu Sand unter meinen Füßen, Monde stürzten lachen in die Sonne, wurden zu Gas, wurden zu deinem heißen Atem auf meinem brennenden Gesicht. Du umarmest mich und ranntest los. Wie stark du bist, dachte ich, wie stark und unbesonnen laut flüsternde Worte deiner Lust. Nimm mich.

 

Doch verliebe dich nicht. Verliebe dich nicht in mich.

Weil auch ich mich nicht verliebe. Nicht verliebe in dich.

 

Die Zigarette ist verglüht. Meine Füße werden kalt auf dem Boden, die Kälte kriecht in meinen Beinen hoch in meinen Bauch. Eine Fliege sitzt auf dem Spiegel und spielt mit ihrem Spiegelbild. Sie reibt ihre Vorderbeine aneinander. Schnell und sorgfältig. Ich drehe den Wasserhahn auf und wasche meine Hände. Wasser tropft auf meine Füße, gehe mit nassen Sohlen über den Teppich im Wohnzimmer in die Küche.

Die Fliege folgt mir. Sie und ihr Spiegelbild schwirren um meinen Kopf. Landen in meinen Ohren und krabbeln in ihr warmes, weiches Lager. Ich lasse sie gewähren.

Mein Blick fällt auf den Kühlschrank. Sein Brummen vermischt sich mit dem Rauschen in meinem Kopf und ich beuge mich herab, lege mich auf den Boden und umfasse mit beiden Händen einen der schwarzen Plastikfüße. Sachte hebe ich den Kühlschrank an. Er ist schwerer als ich dachte. Mit einem schmatzenden Geräusch löst sich der Fuß vom Boden. Ich erkenne, daß er innen hohl ist, und aus ihrem dunklen Gefängnis befreit, reckt eine weiße Lilie ihr Blütengesicht in die fast völlige Dunkelheit des Raumes. Lautloses Entfalten der Blätter, zarte, zitternde Stempel schwer von Blütenstaub. Augenblicklich verströmt die Blume ihren Duft. Unsichtbaren Nebelschwaden gleich umhüllt er jeden Gegenstand in der Wohnung, legt sich auf Boden und Wände, Teppiche und Möbel. Die Schatten ziehen sich zurück.

Ich schließe für einen Moment die Augen.

Und sehe dich.

 

Sachte pflücke ich die weiße Lilie vom Boden, senke den Kühlschrank langsam herab und stehe auf. Die Blüte in beiden Händen tragend gehe ich ins Schlafzimmer, lege mich auf das Bett und schalte die Lampe an. Warmes Licht breitet sich aus, vermählt sich mit dem Weiß der Blume.

Ein winziger Tropfen, zwischen den orangefarbenen Blütenstempeln funkelndes Glitzern, spiegelnd das Licht wie ein Prisma aus geschliffenem Diamant.

 

Es ist eine Träne. Eine einzige, kleine, salzige Träne. Und ihr leises Lied singt mich sanft und zärtlich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.

 

Verliebe dich nicht, verliebe dich nicht in mich.

Weil auch ich mich nicht verliebe, nicht verliebe in dich.

 

 

 

 

 

 

© Wortflorist

August 2012

 

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