Eine Amsel sitzt in der vertrockneten Erde des Gartens und steckt ihre dünnen Beind durch die Kruste in die Decke der darunterliegenden Höhle. Für mich sieht es so aus, als habe der Vogel keine Beine.ch schaue hinaus in das Licht des beginnenden Tages und öffne kein Fenster um die Kälte draußen zu halten. Der apfelsinenfarbene Schnabel spaltet sich in der waagerechten Linie, eine kleine Zunge schiebt sich sachte aus dem sich bildenden Winkel hervor und auf der Spitze sitzt ein schönes Mädchen, in weißem Kleid. Mit blassem Gesicht und durchsichtigen Händen, das blonde Haar wirr in der Stirn von der glitzernden Krone um roten Samt nicht gebändigt. Zwischen den zerbrechlichen Fingern hält sie in der rechten Hand eine Jakobsmuschel, in der linken ein Segelschiff.
"Santa Maria" lese ich.
Und während dies alles geschieht, wirft die Prinzessin aus blauen Augen ein Meer in den Garten. 
                                                                                                                                                 
-Aber es ist doch nur ein Vogelbad!
                      sagst du leise hinter meinem Rücken.
Ich jedoch sehe die sich ausbreitenden Wasser, Wellen spielen um die Wurzeln der Bäume, tanzen zwischen Blumen und streiten sich um all die trockenen Blätter die der Wind vergaß.
Die winzige Prinzessin hat Mühe, sich auf der ängstlich zitternden Zunge der ertrinkenden Amsel zu halten. Würde und Gleichgewicht sind Gewalten einer sich eben in der Entwicklung befindlichen Natur wie immer unterzuordnen, sie weiß das, ich kann es in ihrem Gesicht lesen, doch es ist nicht immer leicht, die Regeln zu befolgen. So wirft sie die Muschel so weit sie kann hinaus in die tosende See.
Von da, wo ich stehe, sieht es aus, als seien es wenige Zentimeter.
-Und so übergebe ich meinen Samen der Welt die ich schuf!
                        lese ich von ihren roten Lippen. 
Dann setzt sie sanft das Schiff auf eine schon ihre Füße umspielende Welle, seine Segel blähen sich auf und mit rascher Fahrt entzieht es sich an einer erdachten Linie hinter dem Horizont meinen Blicken. Schon spritzen erste Wassertropfen ihr Kleid, dann erfaßt eine Woge die ganze Figur, der Stoff liegt wie Kastanienblüten weiß auf ihrer Haut, vermählt sich mit der Farbe ihres Fleisches und entzückt schaue ich die kleinsten frierenden Brustwarzen des gesamten Universums.
Die Prinzessin indes klammert sich fest an den Schnabel der nach Luft schnappenden Amsel, immer höher steigt das Wasser, am wolkenlosen Himmel schreien Möwen, Wale singen während sie sich auf die Fensterbank vor der Küche werfen. Ich öffne das Fenster und schiebe sie vorsichtig mit spitzen Fingern ins Wasser zurück.
-Schließ das Fenster, es ist kalt!
                          sagst du, noch immer hinter mir stehend. 
Ich sehe die kleine Prinzessin auf den Wellen treiben, ihr Kleid umrahmt den aus dem Wasser ragenden Oberkörper wie eine Seerose und trägt sie auf einer sich darunter gebildeten Luftblase. Sie lächelt. Streicht mit den Händen über die Haut des Meeres und scheint zu singen, ja, sie singt. Gemeinsam mit den Walen. Mit geschlossenen Augen. Und einem lächeln um ihre winzigen, roten Lippen.
Und das Meer beruhigt sich. Immer flacher werden die Wellen, immer ruhiger gleiten die Wasser, bis endlich ein Ozean des Friedens und der Stille vor mir im verschwundenen Garten liegt.
-Sieh doch, die Amsel dort, sie scheint im Vogelbad zu ertrinken!
                           sagst du.
Jetzt stehst du neben mir, ich rieche dein Parfüm, fühle die Wärme deines Körpers. Du legst deine Hand in die meine. Kalt und hart versuchen die Knochen Weichheit zu simulieren doch es gelingt ihnen nicht. Ich wende den Kopf und schaue in deine Augen. Ich sehe graue Berge und Schluchten aus Furcht und  Unglauben, tote Bergsteiger verwesen an den Hängen und in den Tälern kämpfen die Bauern und der Wirt des Dorfgasthofs um ihre Existenz.
Schwarze Wolken verdunkeln den Himmel und über den Wipfeln der kahlen Hänge schiebt sich ein nicht endender Regen in die trostlose Gegend. Ich drücke deine Hand bis es mir weh tut und du sie mir entziehst.
Ich wende meinen Blick von dir und spüre deine Tränen, fühle den Regen aus deinem Verstand ins Freie drängen, fühle salzige Rinnsale aus Schmerz und Einsamkeit über deine Wangen laufend deine Haut vertrocknen, spüre den Schlaf in Dir, deine Müdigkeit, deine Sehnsucht zu begreifen wo es doch nichts zu verstehen gibt. Ich höre dein Ringen um Nähe, dein Verlangen wegzulaufen, all dem zu entkommen und doch weiß ich um die Ketten um die Fesseln an deinen Füßen bleiernen Beine.
Ich sehe hinaus in den ehemaligen Garten. Auch du siehst hinaus, und aus deiner Unfähigkeit zu glauben heraus versickert das Meer. Schon sind die Spitzen der Grashalme zu erkennen, hie und da schiebt sich ein Stück Erde wie eine Insel durch die Oberfläche des Wassers, da sehe ich die Amsel mit nassen Federn tot im Grase liegen und die kleine Prinzessin steht mit nackten, kalten Füßen auf einem Stein und weint um all die Fische welche zappelnd in der kalten Morgenluft ertrinken. Ihr roter Lippenstift ist verschmiert und so scheint ihr Mund zu bluten, ihr blondes Haar klebt unter dem nassen Samt ihrer Krone am Kopf und kraftlos hängen ihre Arme wie Äste einer Weide herunter. Dann bricht sie lautlos zusammen.
Ich krieche aus dem Fenster hinaus, springe hinunter in den salzfeuchten Garten und gehe langsam zu ihr herüber, gehe in die Hocke und beuge mich zu ihr herunter. Die kleine Prinzessin hat die Augen geschlossen und so schiebe ich sachte meine Hand unter ihren winzigen Leib, nehme sie hoch, richte mich auf und hauche ihr sanft, ganz sanft, über den frierenden Körper. Sie schlägt die Augen auf, lächelt mich an und flüstert leise.Ganz nah beuge ich mein Ohr zu ihrem Mund, erneut flüstert sie:
Kolumbus
Noch einmal lächelt sie.
Dann ist sie tot.
Schwer wiegt der kleine Körper in meiner Hand. Wind kommt auf und ich spüre die Kälte unter meine Haut kriechen.
Noch einmal blicke ich mich um, das Meer ist verschwunden und in dem hintersten Winkel des Gartens, dort, wo Efeu den Boden zu ersticken droht, und ein vorwitziges Maiglöckchen seinen weißen Kopf aus der wintermüden Erde streckte um bei Nachtfrost zu erfrieren, sehe ich das Schiff liegen. Es liegt auf Backbord, die Masten sind geknickt und die Segel schlaff zusammengefallen. Ich gehe hinüber, den kleinen Körper wie eine Feder auf der nach oben offenen Hand tragend, und hebe es hoch. Es ist kaum größer als eine Eintagsfliege und so balanciere ich es auf der Kuppe meines Zeigefingers, gehe durch den Garten zurück zum Fenster und klettere hindurch in die Küche.
Noch immer stehst du da und beobachtest mich.
Du schließt das Fenster hinter mir und sagst:
-Es ist so kalt!
Ich weiß, und es wird lange, sehr lange dauern bis es wieder warm wird.
-Die Amsel ist ertrunken!
                          sagst du so leise, daß ich es fast nicht hören kann.
-Was für ein dummer Vogel!
Ich sehe dich nicht an, gehe ins Wohnzimmer und nehme meine Brille vom Tisch.
Dann gehe ich mit dem Schiff auf der Fingerspitze und der Prinzessin in der Hand ins Badezimmer, lege den Körper auf die Ablage unter dem Spiegel und setze das Schiff auf den Rand des Zahnputzbechers. Vorsichtig entkleide ich die tote Prinzessin, die Krone ist mit zwei Spangen im Haar befestigt, nehme sie herunter, das kleine Gesicht ist wunderschön und sieht glücklich aus. Ich nehme den Fön und trockne zuerst die Krone und anschließend das weiße Kleid. Dann, ganz sachte, ihr nasses Haar. Ich reiße etwas Toilettenpapier von der Rolle und trockne damit ihren zerbrechlichen Körper ab.
Mit einem Kleenex und einem Tropfen deiner Reinigungsmilch wasche ihr den verschmierten Lippenstift aus dem Gesicht. Nachdem ich mit all dem fertig bin ziehe ich sie wieder an, kämme ihr mit meiner Zahnbürste die blonden Haare, befestige die Krone mit den beiden Klämmerchen (ich muß dazu eine Pinzette nehmen) an ihrem Kopf, und setze die kleine, tote Prinzessin aufrecht mit dem Rücken an die Dose in der du deine Ringe aufbewahrst.
-Was tust du da?
                          wieder stehst du hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe auf deine Stirn um nicht im Regen hinter deinen Augen zu verdursten. Noch halte ich die Pinzette zwischen meinen Fingern, ich lege sie in eine Schale aus rotem Glas in der sich auch die Nagelschere befindet.
-Isabella ist tot!
                          sage ich.
Fragend siehst du mich an. Ich will nicht unfair sein, darum drehe ich mich um, nehme die kleine, tote Prinzessin und halte sie dir unter die Nase.
Lange starrst du auf  meine Hand, dann lachst du. Laut, zu laut.
-Was soll das? Bist du nun verrückt geworden?
Du blickst über meine Schulter. Ich glaube, du wollest dein Gesicht im Spiegel auf seinen korrekten Sitz überprüfen, doch dann greifst du an mir vorbei, hinter mich. Schnell folge ich mit meinem Blick deiner Bewegung  und sehe, wie du das Segelschiff vom Rand des Zahnputzglases pflückst und es zwischen deinen Fingern zerkrümelst. Es geht so schnell, daß ich nicht reagieren kann, doch eine Träne springt aus meinem Auge, segelt  im warmen Aufwind des Heizkörpers durch den Raum und verdunstet.
Nur das Salz rieselt lautlos zu Boden und verschwindet im Flor des Badvorlegers.
An deinen Fingern kleben die Reste der  Santa Maria, ein Segel mit einem Stückchen Mast klemmt unter deinem Fingernagel und du hast schon wieder aufgehört zu lachen. Noch immer halte ich die Prinzessin, und ich kann mich nicht bewegen.
-Laß mich nochmal sehen!
                          sagst du mit seltsam gebrochener Stimme.
Ich schließe die Hand, ein Fünffingersarg, warm, geborgen, schläft sie, deinen Blicken entzogen.
Ich gehe an dir vorbei aus dem Badezimmer heraus. Mein Arm streift deine Schulter und er scheint abzusterben.  Du folgst mir. Ich drehe eine Pirouette und geh rückwärts zurück ins Bad, schließe die Tür hinter mir und drehe den Schlüssel um. Zweimal. Du klopfst. Dann höre ich dich atmen und deine Schritte sich entfernen. Ich weiß, was du nun tun wirst. Du stehst vor dem Spiegel im Wohnzimmer, du weinst und beobachtest dich dabei. Du bewunderst diese salzige Wasser das aus deinen Augen läuft, du denkst im selben Moment an dein verquollenes Gesicht hinterher. Und du verachtest mich schon jetzt dafür. Dafür, daß ich dich zum weinen bringe, du häßlich davon wirst, du neue, unsichtbare Falten von mir geschenkt bekommst, Falten, die  unaufhörlich aus dem inneren des Bindegewebes in die Freiheit kriechen, dorthin, von wo aus sie sichtbar dein Gesicht als das entlarven, was es ist: Das Gesicht einer unglücklichen Frau.
 
Langsam öffne ich meine Hand. Die kleine Prinzessin liegt im etwas zerknitterten Kleid, verursacht durch die warme Feuchte meiner Haut, in der Schale, welche meine Hand nun bildet.
Das bizarre im Leben stellt die Tatsache dar, daß es überhaupt möglich ist.
Die Liebe, der Tod, welchem die Geburt vorauseilt, die Zeit dazwischen. Mittendrin bin ich. Hoffnungen, Träume, Wünsche, Wirklichkeiten und Unwirklichkeiten. Du sagst du liebst mich. Ich halte meinen Mund. Ich könnte lügen, doch ich schweige und entlasse dich ins Ungewisse. Allein. Mit deinen Gedanken.
Ich schaue in meine Hand. Dort liegt sie noch immer im nicht enden wollenden Schlaf.
Behutsam ziehe ich ihr das Kleid wieder aus. Beuge meinen Kopf zu ihr herunter, öffne meine Lippen zu einem Kuß, atme noch einmal ein und denke an dich. Und wieder dich.
Der Körper wird zur Last. Meiner. Deiner. Ihrer. Ich stecke sie in meinen Mund und schlucke sie herunter. Es schmeckt nach nichts.
Lange betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Suche nach dem Kind welches ich einmal war. Wo bist du? Werfe das kleine, weiße Kleid in die Toilette und spüle es weg. Doch bevor es das Meer erreicht wird ein Kaiserbarsch es angeln, und seiner Braut ein viel zu enges Hochzeitskleid schenken. Ich werfe die Krone hinterher, öffne die Tür und gehe in das Wohnzimmer, setze mich auf den Ledersessel und schlafe ein.

 

-Unten im Keller steht das Wasser bis zur Decke!

                                  sagst du leise.

Ich öffne die Augen, du kniest vor mir auf dem Boden, wie lange schon? Draußen ist es dunkel. Nachtschwarz drückt die Welt von außen auf die Fensterscheiben.
-Habe ich geschlafen?
                                Du nickst.
Ich gehe nach unten, im Keller ein Meer. Ich ziehe mich aus, wate hinein, es ist kühl und riecht nach Salz. Meine Haut brennt. Ich tauche und finde tastend im schwarzen Wasser eine Truhe. Bist du mein Schatz?
Blind öffne ich sie, greife hinein und fasse deine Hand, sie ist kalt, du bist seit Jahren hier. Hab ich dich hergebracht? Ich laß dich los und tauche auf. Der Mond scheint durch das kleine Fenster in meine Augen, ich blicke nach oben.


Von der Decke baumeln 
zwei kleine Vogelbeine.

©Wortflorist