Ein Junge steht am Strand, es ist sehr warm und die Sonne versteckt nur einige ihrer Strahlen hinter Federwolken aus Zuckerwatte. Der Junge hat seine Hände in die Taschen seiner viel zu weiten Hose gesteckt und in der rechten spielt er mit einer pfenniggroßen Jakobsmuschel. Er schaut auf das Meer, es ist ein klarer Tag, und so kann er weit sehen. Er sieht den gekrümmten Horizont, er sieht die Möwen, die sich aus großer Höhe hinabstürzen und manchmal mit einem Fisch im Schnabel aus dem Wasser aufsteigen. Er sieht den Wind, der das Wasser kräuselt, und seine Nase legt sich in kleine Falten. Er riecht das Meer. Es riecht nach Sehnsucht, nach Versprechen, es riecht nach Erfüllung. Der Junge sieht sich um, es ist niemand da außer ihm und den Möwen und den Fischen und den Muscheln. Er zieht seine Hose aus und legt sich in den Sand, seine nackten Füße kitzeln die Wellen. Sie ziehen sich schnell zurück, doch sie kommen immer wieder. Die kleine Wellen jauchzen und wispern und flüstern, kommt, wir machen es nochmal. Und so spielt das Meer mit den Füßen des Jungen, und die Füße des Junge spielen mit dem Meer. Der Junge legt sich auf den Bauch, mehr aus Vernunft als aus Lust, denn die Sonne hat sein Gesicht doch schon ein wenig rot werden lassen. Fast brennt es schon, doch ab und an besänftigt ein kühler Windhauch die Haut. Der Junge legt sein Gesicht in den Sand. Ganz nah liegen die Sandkörner nun vor seinen Augen, wie winzige Felsen sehen sie aus. Aber das sind sie ja auch, denkt er, wir nennen Sand Sand, weil die einzelnen Steinchen so klein sind, doch besteht nicht ein Fels aus dem gleichen Material? Besteht dieser Strand nicht vielmehr aus einer unzählbaren Anzahl winziger Felsen? Wir nennen es nur nicht Felsenhaufen, sondern Sandstrand.

Sand besteht aus gemahlenem Fels.

Er bringt seine Hand ganz nah an sein Gesicht und nimmt eine Fingerspitze Felsen auf. In dem entstandenen Loch sammelt sich sofort Wasser und dem Wasser folgt nasser Sand und schließt die Öffnung wieder.

Erneut gräbt der Junge und diesmal nimmt er eine Handvoll.

Ein kleiner See entsteht, und in diesem See taucht eine Muschel.

Er nimmt die Muschel aus dem See heraus, bevor er sich mit Sand füllt.

Komm, kleine Muschel, ich bringe dich zu deinen Freunden. Er dreht sich um, setzt sich auf und beugt sich so weit nach vorn, daß seine Hände das Wasser berühren. Da liegt noch eine, denkt er, und da noch eine, ganz viele sieht er plötzlich und es scheinen immer mehr zu werden. Er geht auf die Knie, sammelt alle Muscheln in erreichbarer Nähe zusammen und legt die ausgegrabene dazu.

Er legt sie so, daß sie von Wasser umspült werden, dann taucht er sein Gesicht ins Meer.

 

Was siehst du?

Erschrocken steht er auf und sieht sich um. Ein Mädchen steht hinter ihm und schaut ihn neugierig an.

Hastig schlüpft er in seine Hose.

Nichts, das Wasser brennt in den Augen!

Was suchst du?

Ich suche nichts, alles ist da, ich muß es mir nur ansehen!

Du meinst, du mußt es sehen?!

Aber ich sehe es doch, da, schau hin!

Er macht eine ausholende Armbewegung.

Ich sehe nichts weiter als das, was ich sehe. Nicht weniger, aber auch nicht mehr!

sagt das Mädchen leise.

Aber das meine ich doch, mir geht es genauso!

Das Mädchen schüttelt mit dem Kopf.

Ich aber glaube, das es mehr zu sehen gibt als das was wir sehen, ich meine, kannst du denn alles sehen was es gibt, ich meine wirklich alles, so mit den Augen, meine ich?

 

Der Junge lacht auf.

Wie sollte man denn sonst sehen? Blinde können nichts sehen, weißt du!

Woher willst du das wissen, warst du mal blind?

 

Na, du kannst fragen, natürlich war ich nicht blind, aber ich kann es mir doch vorstellen, siehst du so...!

Er schließt die Augen.

Jetzt sehe ich nichts mehr!

 

Das glaube ich dir nicht, nein, laß die Augen zu, ich glaube vielmehr, daß du jetzt viel mehr siehst als vorher!

Aber nein!

sagt der Junge.

Ich sehe nix mehr, absolut gar nichts, versprochen!

Schade!

antwortet das Mädchen.

Wirklich schade, aber paß auf, ich zeig dir was, aber laß die Augen zu, nicht aufmachen, egal was passiert, einverstanden?

Einverstanden!

Er fühlt ihre Hand in die seine kriechen, ganz sanft, wie ein Kolibri fühlt sie sich an.

Sag mir was du siehst!

Ich fühle deine Hand in meiner!

Nein nein, sag mir was du SIEHST!

Ich sehe einen Kolibri in meiner Hand sich verstecken. Ihm ist kalt, doch er wir schnell warm.

Das Mädchen zieht den Vogel zurück.

Dann küßt sie den Jungen auf seine Lippen.

 

Was hast du gesehen?

fragt sie, kaum lauter als der Wind klingt ihre Stimme.

Sag schon, was hast du gesehen?

Ein Schatten zog über seinen Verstand, verdunkelte für eine Sekunde die Klarheit des Denkens, dann sagte er:

 

Ich sah sie!

Wen?

Du kennst sie nicht!

Sei da nicht so sicher, kennst du sie denn?

Nein, aber ich sah sie in einem Traum, oder war es am Horizont meiner Wünsche? Ich weiß es nicht mehr.

Er öffnet die Augen und sah sie fragend an.

Laß die Augen zu!

Sie legte eine Hand auf sein Gesicht.

Wie sieht sie aus?

Sie ist schön!

Ist das alles? Gib dir mal ein bißchen Mühe, erklär mir, was du meinst mit „Schön!“

 

Sie sieht so aus wie sie aussieht, braunes Haar, durchzogen vom Flirren des Sonnenlichts, feine Fäden von Seide ziehen durch sie hindurch. Ihre Ohren schmiegen sich eng an ihren Kopf, wie Muscheln sich in den Sand legen.

Immer schiebt sie sich irgendeine widerspenstige Haarsträhne in ihr Gesicht, die sie wegstreicht mit ihren schlanken Händen, mit den sanften und doch starken Fingern, und einem perlmuttfarbenen, schimmernden Halbmond in ihren Fingernägeln. Silbergoldmoorwassermeeresfroschgrünkirschbaumbraune Augen, sie verändern ständig ihre Farbe. Wenn sie glücklich ist, werden sie ganz tief und warm und grün. Wenn sie unsicher wird, dann werden es auch ihre Augen, sie können sich dann nicht entscheiden, welche Farbe sie annehmen sollen.

 

Doch wenn ich sie küssen würde, sie küssen auf ihre weichen Lippen, auf diesen Mund, der einen Duft nach Pfirsichen und Frühling verströmt, dann würden sie sich schließen. Doch, ich weiß es, dann werden ihre Augen türkis.

Türkis, denn sie taucht in diesen Momenten ein in einen Ozean der Leidenschaft. Ihre weiße Haut atmet Liebe, alles an ihr wird flüssig, ich kann in ihr schwimmen und sie schwimmt in mir. Ihr Leib ist von dieser festen Weichheit wie man sie bei Katzen findet.

Hast du schon einmal eine schlafende Katze gestreichelt?

Alle Muskeln sind entspannt, alles ist Hingabe an diesen Augenblick, alles ist warm und sinnlich, doch wenn sie sich bewegen, dann ist die Aufmerksamkeit und die Neugier zum Leben in jeder Faser nicht nur spürbar, sondern man kann es sehen. Man kann die Spannung sehen.

So ist sie auch.

Weich und Fest zugleich, mit starken, sanften Händen, einem Hintern wie ein frisch polierter Apfel, mit Beinen, an denen wunderbar seltsame Füße befestigt sind, die in meine Hände wie in einen Handschuh passen würden, weißt du, was ich meine?

Sie hat schöne Brüste, ich glaube, es sind französische, denn sie haben nichts mit den schweren, wagnerischen Brüsten der deutschen Frauen gemein. Ihr Rücken gleicht einer gespannten Bogensehne, die ihren Anfang in einem schmalen Hals nimmt, an dem alle Nerven zusammenzulaufen scheinen, dort riecht sie besonders gut.

Ihr Bauch ist ganz bestimmt der Himmel, wenn ich meinen Kopf darauf legte, dann machte mich das ruhig und doch... vielleicht, nein sicher, auch nervös, nervös auf diese wunderbare Art.

Und ich glaube, sie schmeckt nach Erdbeeren.

 

 

Sie spricht mit sanfter Stimme, ich liebe ihre Stimme, sie ist wie der Wind an einem heißen Sommertag, er durchstreicht dein müdes Gesicht und erfrischt deinen Geist. Sie ist neugierig, und doch so voller Wissen, daß es oft aus ihr heraussprudelt. Manchmal stürzt es in ihr zusammen und ich mag ihr verwirrtes Gesicht, wenn sie nicht so recht weiter weiß. Sie tut es dann mit einer flapsigen Bemerkung ab, doch ich weiß, etwas geschieht in ihr, und was wichtiger ist, etwas wächst in ihr.

Nichts von allem fällt auf trockene Erde, alles versinkt sicher in feuchtem Boden, keimt und wächst. Sie gießt noch den kleinsten Keimling mit ihren Gedanken und läßt ihn zu einem Baum oder gar einem Wald werden. Wenn wir miteinander sprechen, dann entstehen Kontinente in ihrem Kopf und sie zeigt sie mir.

Manchmal hat es den Anschein, als redeten wir aneinander vorbei, doch am Ende sprechen wir doch vom gleichen. Sie hat das, was sich viele Menschen mühsam erarbeiten müssen, weil sie vergessen haben, wie sie als Kinder waren. Manche erfahren es nie, andere haben Ahnungen, doch bei ihr ist es einfach da. Sie weiß.

Und sie ist ständig dabei, die Worte zu lernen um es aussprechen zu können. Doch sie weiß es bereits bevor sie wußte das sie es weiß. Ich bin gänzlich entzückt und ein wenig... anverzaubert!

 

Sei still!

sagt das Mädchen leise. Sie runzelt die Stirn.

 

Und all das hast du gesehen?

Ich denke schon, ja, das habe ich gesehen!

Wenn das so ist, dann frage ich dich, womit hast du das alles gesehen? Mit deinen Augen? Bestimmt nicht, all dies sieht man nicht mit den Augen, mit dem Herzen vielleicht, doch du bist nicht der kleine Prinz, dies ist eine andere Geschichte. Sie hat deine Seele berührt, und deine Seele hat keine Augen, deine Seele empfindet tiefer als dein Verstand und das, was deine Augen ihm verraten. Es ist ein Prinzip in der Natur, du kannst ihm nicht entrinnen. Ignorieren vielleicht, doch es ist da und wird es immer sein!

Sie legt eine Hand an die Stirn.

 

Wie hat es geendet?

Es endete nicht. Es ist!

 

Der Junge hielt die Augen geschlossen. Er roch das Meer, er dachte an sie, er hörte die Wellen und die Möwen und er dachte an sie, er fühlte den Wind und er dachte an sie, er faltete die Hände, atmete tief ein und dachte an sie, er vergrub seine Zehen im feuchten Sand und er dachte an sie.

Als er die Augen öffnete war er wieder allein. Doch immer noch dachte er an sie und er sah sie, als sei sie da.

Er ging nach Hause, duschte sich das Salz von der Haut, wusch sich den Wind von der Stirn und das Geschrei der Möwen aus den Ohren. Lange betrachtete er im Spiegel sein Gesicht.

Wie jung es aussieht, dachte er, wie jung und doch so alt.

Wer bist du?

dachte er.

Wer bist du!

Rief er laut, wer bist du mir?

Müde legte er legte sich auf sein Bett und dachte an sie. Er sah sie, sah sie wie im ersten Augenblick.

Auch er wußte es bereits.

Ein Blick, ein Wort, die flüchtige Berührung zweier Seelen, eine Hand, die eine silberne Haarsträhne hinter das Ohr schiebt, ein Augenaufschlag, ein schneller Blick zum Boden, der Rauch der Zigarette malt flüchtige Bilder weißer Wolken in die Luft, etwas warmes gleitet sachte in seinen Bauch.

Es wird ganz still. Die Staubkörnchen verharren reglos im Schein des Kerzenlichts.

 

 

Mach die Augen zu.

 

 

Sie betritt das Zimmer mit vorsichtigem Schritt um die Stille nicht zu töten.

Sie entkleidet sich und legt sich neben ihn, bettet zärtlich ihren Kopf an seine Schultern und atmete leise.

Ich bin da! flüstert sie.

Er legt seinen Arm um sie.

Ich weiß!

 

 

 

 

 

 

©Wortflorist